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  • Anette Frisch

Blur, Martin Parr und mein Besuch im Gourock Lido

Aktualisiert: 24. Juli 2023

Ein Foto von Martin Parr ziert das aktuelle Albumcover der britischen Band Blur. Darauf zu sehen ist der Gourock Pool, Schottlands ältestes Freibad. Ich war im Juni dort schwimmen, mit gemischten Gefühlen.


Man sieht das Freibad Gourock in Schottland.
Alles so schön blau hier. Der Gourock Lido im Juni 2023 © Anette Frisch

Als Schwimmerin bin ich per se eine melancholische Person. Ich halte mich zwischen Himmel und Tiefe auf und lasse mich tragen auf dem Rücken eines Meeres, eines Sees, meist jedoch eines Freibads.


Ich beneide die Schwimmer*innen, die das Meer vor ihrer Tür haben und wann immer sie möchten mit ihrem Leib eintauchen können in die ozeanische Frische, am Horizont verschwinden und sich irgendwann herausschleppen, um Jahre jünger.


Ich kann das nicht haben. Ich lebe in einer Stadt, umringt von anderen großen Städten, mit medikamentenverseuchten Flüssen und tückischen Strömungen, die jeden Sommer am helllichten Tag Leichen den Rhein hinabspülen. Der Sohn spielt am Ufer, er wird von einer Welle weggerissen, der Vater stürmt hinterher, will den Kleinen retten, kommt nicht gegen die Strömung an, die auch ihn hinabzieht. Zwei Tote. Das passiert jedes Jahr. Und zwar mehrmals. Auch das ist ein Grund, warum ich in meiner Stadt das Freibad Flüssen und unbekannten Gewässern vorziehe.


Es gibt ein Foto, das beides verbindet. Das Freibad und das Meer. Die Sicherheit und die Grenzenlosigkeit. Der britische Fotokünstler Martin Parr hat es 2004 in Schottland aufgenommen. Es zeigt einen Mann, der allein in einem Freibad schwimmt. Eine Mauer trennt das Bad vom Meer, am Horizont ruhen weiche Hügel und über allem schwebt ein düstergrauer Unwetterhimmel. Das Bild drückt die tiefe Sehnsucht in mir aus, das zu tun, wovon ich überzeugt bin und mich von dem, was um mich herum geschieht, nicht beirren zu lassen. Wer jemals bei Starkregen schwimmen war, weiß was Heidegger mit dem Zustand des In-der-Welt-seins meinte.

Das Bild zeigt das Albumcover von "The Ballad of Darren", dem neuten Studioalbum von der britischen Band Blur.
Das Foto von Martin Parr ist das Artwork des neunten Albums von Blur.

Es ist möglich, dass die Aura des Fotos die britische Band Blur dazu bewog, es als Coverart für ihr neuntes Studioalbum zu nutzen, das diese Woche erschienen ist. Aber es ist nicht Darren, der da schwimmt, sondern Ian Galt, ein Zahnarzt, der seit mehr als 40 Jahren dort im Gorouck Lido täglich seine Bahnen zog. Weder er noch Martin Parr kannten sich damals. Parr kam einfach zum richtigen Moment am Lido vorbei, als die Farbkontraste der Natur so unverschämt günstig standen. Er wartete eine halbe Stunde, bis "die richtige Person vorbeisschwamm" - so erzählte er es jüngst der BBC.


Es sind fast 20 Jahre nach dem Parr-Moment vergangen und ich stehe vor dem Eingang des Gourock Lido, Schottlands ältestem beheizten Freibad. Ich hatte auf unserer Schottlandreise den Umweg hierhin eingeplant. Was ich immer tue, wenn ich verreise: Ich besuche Freibäder, nicht nur um in ihnen zu schwimmen, sondern auch um kleine Feldstudien zu machen. Zum Beispiel gehe ich der Frage nach, ob es bestimmte ungeschriebene Regeln gibt. In Kapstadt habe ich gelernt, erst loszuschwimmen, wenn der nächste Schwimmer am Beckenrand anschlägt und wir uns begüßt haben. Ein Aspekt, den ich auch interessant finde, ist jener der Freizügigkeit. Sind die Umkleiden große offene Räume oder in einzelne Kabinen unterteilt? Oder: Kann ich mich nackt duschen oder muss ich – wie in den Niederlanden, weil die Waschräume nicht geschlechtergetrennt sind – umständlich zwischen Bikini und Haut herumwurschteln?



Es sind 28 Grad in Schottland und es herrscht wie in vielen Teilen auf der Welt eine klimatische Ausnahmesituation. Von der Kasse kann ich hinunter aufs Becken schauen. Darin und darum ist schon jede Menge los. In der Umkleide läuft laut Rhianna. Frauen, Männer, Kinder bahnen sich ihren Weg auf der Suche nach einer freien Kabine. Die Kinder pitchen sich in ADHS-Höhen, weil sie es kaum aushalten können, nicht ins Wasser zu kommen; die Eltern wuchten Klamottentürme auf ihren Unterarmen, die sie bereitwillig in die Schränke stopfen. Gemeinsam mit ihnen schwärme ich wenig später zum Becken hinaus. Der Kinderpool ist geschlossen, weshalb sich die Kleinen mit den Erwachsenen im Schwimmerbecken tummeln, das seinen Namen an diesem Morgen damit verloren hat.


Mich zieht die gegenüberliegende knallblau gestrichene Mauer an, die das Bad vom Meer trennt. Genau genommen ist der Clyde of Firth nur der Arm eines Meeres. Vom Rand beobachte ich das ungeordnete Treiben im Wasser. Und spüre so etwas wie Enttäuschung. Die Spannungskurve, die sich vor Vorfreude auf den Besuch über Jahre in mir aufgebaut hat, droht mit jeder Minute, die ich hier sitze und beobachte, in den Sinusbereich abzukippen. Bis sie den tiefsten Wert erreicht hat und ich unschlüssig bin, ob ich überhaupt schwimmen gehen soll oder nicht einfach ein paar Beweisfotos meines Dagewesenseins mache und abhaue. Ich hatte mir den Gourock Pool mondäner, erhabener und exklusiver vorgestellt. Und er ist: Ein profanes Freibad mit fünf Spaßfaktor-Sternchen.



Auf dem Bild sieht man den Gourock Pool aus der Perspektive des Beckenrands.
Eine Frage der Perspektive. Der Gourock Pool in be real. © Anette Frisch

Ich formuliere Wenn-dann-Sätze und bleibe an einem hängen, mit dem ich mich entscheide: Wenn ich nicht im Gourock Lido schwimmen gehen, dann fühlt sich das so an, als hätte ich nach der 19. Bahn Schluss gemacht, oder nach der 39. oder 69: unvollständig. Ich ziehe die Badekappe über, greife die Schwimmbrille und steige die kurze Metalleiter ins Becken hinunter.


Ich tauche ab und gleite ein paar Meter unter Wasser. Ich bin überrascht, wie milchig es ist. Ich kann nur wenige Meter weit sehen. Außerdem ist das Wasser aufgrund der vielen Menschen unruhig und es fällt mir schwer, meinen Atemrhythmus zu finden. Das Atmen ist mein A und O. Ich kann Kilometer schwimmen, ohne zu merken, dass ich Kilometer geschwommen bin, wenn ich gleichförmig ein- und ausatme. Ich verschlucke mich und irgendwas, das nach salzigem Chlor oder chlorigem Salz schmeckt und mich an die Flüssigkeit erinnert, die ich vor einer Darmspiegelung nehmen musste, rinnt mir die Kehle herunter. Weil ich schlecht sehen kann, orientiere ich mich an den Füßen eines Schwimmers vor mir. Sein Beinschlag erzeugt Huntertausende kleine Blasen und ich stelle mir vor, wie Nanopartikel fremder Hautschüppchen die Chlorsalzsuppe ergänzen. Ich versuche ihn zu überholen, aber die Bahn ist schmal, und weil ich eine Kollission mit einem Schwimmer vermeiden möchte, der mir aus dem milichigen Nichts entgegenschießen könnte, erhöhe ich mein Tempo. Nur um nach dem Überholmanöver einige Bahnen brauche, bis ich meinen Atem wieder eingefangen habe.


Ich kann nichts sehen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht loslassen von den Erwartungen, die ich von irgendwo anders hier an die schottische Westküste mitgebracht habe. Wie vermessen, überheblich und ungerecht das ist, wird mir mit jeder Bahn klarer. Ich wechsle vom Kraulen ins Brustschwimmen. Es ist die Disziplin, die mich aus emotionaler Verkrampfung herausholen kann. Ich bewege mich langsamer und kann langsamer denken. Wie ein Frosch zu schwimmen, schenkt mir eine andere Sicht und verschafft mir eine ruhige Atmung. Ich sehe, wie sich die Sonne glitzernde Formationen auf das Wasser zaubert. Ich nehme die Bademeisterin am Beckenrand wahr. Sie trägt ein gelbes T-Shirt, auf dem Rücken trägt sie eine rote Boje, vor ihr das Blau des Wasser. Gelb, rot, blau. Was für ein schönes Farbenspiel. Ich drehe mich auf den Rücken, wieder blicke ich in einen Blauton, unendlich. Ich höre wie das Wasser sanft gegen den Beckenrand schlägt. Ich bin jetzt endlich da, wo ich hin wollte. Auf dem Rücken des Gourock Lidos.



Rund um den Gourock Pool, Martin Parr und Blur

  • Was ich leider versäumt habe: The Starlight Swim im Gourock Pool. Der letzte Termin ist am 27. September.

  • Bei Magnum Photos kann man für 70 Euro das Foto des einsamen Schwimmers als Poster kaufen. Das Foto stammt aus der Serie "A8", die der Architekt John McAslan bei Martin Parr beauftragt hatte. Die A8 ist eine Schnellstraße, die Port Glasgow mit den Städten Greenock, Gourock und Dunoon verbindet. McAslan ist in der Gegend aufgewachsen und bat Parr seine Kindheitsorte zu dokumentieren.

  • "The ballad of Darren" ist das neunte Studioalbum von Blur. Die Presse lobt das "melancholische Alterswerk". Damit scheint es gut in meine Vinyl-Sammlung zu passen.

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