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  • Anette Frisch

Wie man ein männliches Wesen ins Wasser jagt

Interview mit der Schriftstellerin Ulrike Draesner


Die Schriftstellerin Ulrike Draesner ist keine leidenschaftliche Schwimmerin. Trotzdem schreibt sie drüber und hat der Disziplin sogar einen Roman gewidmet: „Kanalschwimmer“. Darin unternimmt Charles, Anfang 60, den Versuch, durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Anlass ist der Wunsch seiner Frau Maude, in Zukunft mit einem weiteren Mann in einer Mènage-á-trois zu leben. Wie entscheidet sich Charles? Er schwimmt. Und mit jedem Armschlag verändert sich seine Sicht auf das Leben...




Alle Fotos sind während der Recherche 2017 in Dover entstanden. © Ulrike Draesner


Schwimmen Sie eigentlich gern?

Ich muss zugeben, ich schwimme so, wie Durchschnittsmenschen halt schwimmen. Wenn sie mal irgendwo am Meer oder im Freibad sind. Was ich wirklich grundlegend hasse sind Hallenbäder. Allein schon der Geruch! Hier wirkt das schulische Schwimmen massiv nach. In jedem meiner Liebesromane gibt es eine Schwimmszene. In dem Roman Mitgiftfindet sie in einem Schwimmbad statt. Für das Paar nimmt das kein gutes Ende. Zugleich ist es auch sehr lustig.


Sie haben trotzdem 170 Seiten einem Kanalschwimmer gewidmet. Warum?

Das ist die interessantere Frage. Über sie erfährt man viel darüber, was es heißt, ein Buch zu schreiben. Als Schriftstellerin habe ich die Erfahrung, durch den Ärmelkanal zu schwimmen, körperlich nie gemacht. Aber ich weiß, wie schwimmen geht und warum ich lese. Ich lese, damit ich das, was die Figuren in den Büchern erleben, erlebe, ohne es selbst körperlich auszuführen. Ich will nicht in eine scheiternde Nordpol-Expedition verstrickt werden und im Eis sterben. Aber diese Erfahrung als Leserin machen: gern. So ist es auch in meinem Roman: man schwimmt mit durch den Ärmelkanal, ohne selbst für 20 und mehr Stunden in eiskaltem, dreckigem Wasser zu treiben.

Erfinden Schriftsteller die Wirklichkeit?

Oft kann erinnerte Wirklichkeit mit Vorstellungswirklichkeit nicht mithalten. Wir sehen Tausende von Farben und haben fünf Grundwerte für sie; wir erinnern uns an Tausende von Gerüchen und unser Vokabular fürs Riechen ist erbärmlich. Immer wieder hängt der Körper an allen möglichen Ecken über die Sprache hinaus. Der Kern dessen, was ich als Schriftstellerin können muss, ist die Fähigkeit, rüber zu gehen in einen Menschen, der ich nicht bin, und wirklich im Körper dieser Person zu sein, so weit wie möglich diese Person zu werden und das, was ich dann verstehe und fühle, in Sprache auszudrücken.






Das heißt, Sie haben sich alles nur vorgestellt und beispielsweise gar nicht mit Kanalschwimmern gesprochen?

Ich habe natürlich mit einigen von ihnen gesprochen, da war ich mit dem Roman aber schon ziemlich weit. Interviews und Erfahrungsberichte sind wichtig, um Details abzugleichen oder Dinge zu erfahren, die ich vollkommen übersehen hätte. Doch sie führen nur bis zu einem gewissen Punkt. In Gesprächen mit Schwimmern bin ich immer wieder auf Sprachlosigkeit gestoßen. Ich interviewe die Menschen ja auch nicht während des Schwimmens, sondern danach. Sie sind während der Überquerung in einem ganz besonderen Zustand.


„Dein Körper stellt auf die Verbrennung von Fettreserven um. Korrekter Quatsch. Sein Körper stellte auf Knochenessen um, Sehnenessen, Nervenessen. Sein Körper fraß sich jetzt selbst.“ aus: Kanalschwimmer

Eine Schwimmerin erzählte mir, dass sie sich bei ihrer ersten Überquerung die Schulter ausgekugelt hatte und einfach weiter geschwommen ist. Sie hat die Schmerzen erst gespürt, als sie aus dem Wasser kam. Das ist der Zustand, in den Schwimmer geraten. Das heißt, sie machen eine Erfahrung, haben aber nicht die Sprache für das, was sie erlebt haben. Ich gehe mit meiner Empathie, meiner Phantasie, gefüttert durch Recherche in dieses Wasser, bin nicht körperlich im Schwimmzustand, aber mental. Aus dieser Spannung und diesem Unterschied kann ich Sprache gewinnen.





Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Geschichte über einen Kanalschwimmer zu schreiben?

Ich hatte um das Jahr 2000 die Idee, vier Prosatexte zu den vier Elementen zu schreiben. Als ich damals an das Element Wasser dachte, fiel mir das Kanalschwimmen ein. Ich kann Ihnen das nicht weiter erklären. Ich habe in England studiert, mir ist das Thema dort vermutlich einmal untergekommen. Ich schreib dann allerdings erst drei andere Romane. Ich wusste jedoch immer, dass es sich um einen Schwimmer handeln wird, einen älteren Mann.


Warum waren Sie sich so sicher?

Als Kind habe ich gelesen, was mir in die Finger kam. Vor allem Abenteuergeschichten wie Captain Hornblower oder Bücher von Karl May. In diesen Meeres- und Expeditionsgeschichten trifft man auf eine Männerwelt: Der Held ist männlich, die Mannschaft, der Autor. Und diese Equipage erobert ein weibliches Element: Die See. Es hat mir besondere Freude gemacht, das Ganze einmal umzukehren. Als Autorin habe ich ein männliches Wesen ins Wasser gejagt und ihm alles weggenommen. Nicht mal im Boot darf er sitzen! Der Kanalschwimmer ist quasi „Der alte Mann und das Meer" von Hemingway, nur ohne Boot und ohne Fisch. Ich finde, das war mal nötig: eine Frau schickt einen Mann ohne Schutzhülle in das weibliche Element „die See“.





Anders als bei Hemingway stirbt der alte Mann Charles in Ihrem Roman aber, oder?

Nicht unbedingt. Es gibt drei Enden, zwischen denen die Leserinnen entscheiden können. Theoretisch gibt es für jede Überquerung drei Enden: in Frankreich ankommen, unterwegs aufgeben, ertrinken. Das kommt leider vor, trotz des Beibootes, das jeden Schwimmer begleitet. Nur fünf Tage nach meiner Recherche starb ein Mann bei der Überquerung. Leser werden das Ende unterschiedlich interpretieren, je nach ihrem Bedürfnis. Meine Mutter zum Beispiel wollte, dass Charles am Ende tot ist. Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, warum ihr das so gut gefiel. Er ist quasi 30 Jahre jünger als sie, und während er tot ist, lebt sie noch.

„ 8. September 1954: Edward J. May. Allein unterwegs. Leiche im Oktober an der niederländischen Küste gefunden. Sommer 1984: Kumar Ananadan aus Sri Lanka ... 14. Juli 2013: Susan Maylor, eine Meile vor Frankreich, Zusammenbruch des Herz-Lungen-Kreislaufs Nick Thomas, 45 Jahre alt, weniger als eine Meile vor dem Ziel, 27. August 2016. 16 Stunden im Wasser. Herzinfarkt. Douglas Waymark, Mitte 40, 8. August 2017, Herzattacke nach dem ersten S-Bogen in der Mitte der Meeresrinne. So did he see? Die letzte Meile war am gefährlichsten. Regel 10: Es gibt keine Sicherheit.“

Das klingt jetzt ganz düster. Aber es gibt viele komische Momente in Ihrem Roman...

Unbedingt. Der Roman ist nicht düster, sondern erzählt von sehr unterschiedlichen Gefühlen und menschlichen Bindungen. Da kann die Komik nicht ausbleiben. Hinzukommen die Überraschungen des Meeres. Ich bin nicht an de See aufgewachsen, sondern in der Nähe der Berge. Aber etwas verbindet diese beiden Regionen, nämlich die Unvorhersagbarkeit des Wetters. Du schwitzt in der Sonne, eine halbe Stunde später steckst du in einem Gewitter oder in Nebel. Das ist etwas, das ich aus den Gesprächen mit den Schwimmern mitgenommen habe: Man kann versuchen, alles Mögliche zu berechnen und zu planen, aber die Wirklichkeit überrascht immer wieder. Seien es das Wetter, Kollisionen mit Treibgut, der eigene Körperzustand. Charles begibt sich, wie jeder Freiwasserschwimmer, in einen gefährlichen Raum. Er gibt Kontrolle ab. Das ist eines der zentralen Themen des Romans.


Inwieweit geben Sie beim Schreiben Kontrolle ab und wo lassen Sie los?

Ich brauche beides. Ich kann nicht schreiben, indem ich mir vorher einen klaren Plan mache und ihn dann abschreibe. Das käme mir vor wie Malen nach Zahlen. Ich erfinde und baue meine Geschichten quasi im Schreiben. Ich muss eigentlich im Schreiben herausfinden, was passiert. Manchmal kommt das aus der Figur, manchmal inspiriert mich die Wirklichkeit. Wie die Szene, in der Charles von Drohnen verfolgt wird. Ich habe während des Schreibens gehört, dass die französische Polizei mit Drohnen Flüchtlinge verfolgt, die versuchen von Frankreich nach England zu schwimmen. In diesem Augenblick ging für mich eine Lampe an: das muss in den Text.

„In Frankreich durfte der Schwimmer, der keinerlei Dokumente bei sich hatte, zwanzig Minuten an Land bleiben. So das internationale Schiffbrüchigenrecht. Danach griff das europäische Recht. Ab der einundzwanzigsten Minute zählte man als illegaler Einwanderer.“



Haben Sie beim Schreiben von Kanalschwimmer etwas Neues entdeckt, das Sie weiterträgt?

Ich glaube, dass ich mit jedem Buch etwas Neues erfahre. Gerade das Schreiben von Romanen sind Reisen, die sich über mehrere Jahre erstrecken. Und natürlich verändert mich das. Beim Kanalschwimmerhabe ich viel über Nature Writing erfahren. Für mich ein Bereich, der immer da war, und nun für mein Schreiben immer wichtiger wird. Und ganz bestimmt wird etwas von diesen Erfahrungen miteingehen in die beiden anderen Elemente, die noch fehlen, Feuer und Erde. Der Plot ist mir noch nicht ganz klar. Aber in meiner Vorstellung wird es immer erdiger. Ich glaube, die intensive Wassererfahrung führt dazu, dass ich vielleicht doch jemanden in eine Höhle schicken werde.


„Über Fossilien also paddelt er, über vorweltlichem, halb tropischem Laubwerk, steinzeitlichen Beilen und schaufelartig ausladenden, versteinerten Geweihen, über längst verwehten Bedürfnissen, Träumen und Seelen.“



Ulrike Draesner lebt gemeinsam mit ihrer Tochter als freie Schriftstellerin in Berlin und Leipzig. Sie publizierte in den vergangenen 25 Jahren sieben Gedichtbände, fünf Romane, mehrere Erzähl- und Essaybände, Hörspiele, Übersetzungen und beteiligte sich an zahlreichen intermedialen Projekten. Von 2015 bis 2017 war sie Writer in Residence an der Universität Oxford, seit 2018 unterrichtet sie als Professorin literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Die Novelle „Kanalschwimmer“ ist 2019 im mare Verlag erschienen. Im August erscheint der neue Roman von Ulrike Draesner. In „Schwitters“ geht es um Kurt Schwitters Exilleben in Norwegen und vor allem England. © Foto Dominik Butzmann für laif http://www.draesner.de/

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